Die Freiheit schätzen – die Freiheit schützen

Das Pessach-Fest symbolisiert die Errettung unseres Volkes aus der Knechtschaft, hat aber auch immer eine universelle Bedeutung.

Von Dieter Graumann

Pessach ist eines der schönsten Feste im jüdischen Kalender. Die wunderbaren, kostbaren, reichhaltigen Rituale verzaubern uns jedes Jahrs aufs Neue. Der Sederabend, den wir im Kreis der Familie oder mit unseren Lieben und Freunden im großen Kreis unserer Gemeinde verbringen, verbindet uns zugleich auf innigste Weise mit allen Juden, die am 15. Nissan rund um den Globus des Auszugs aus Ägypten gedenken – und zugleich auch mit allen Juden, die das schon vor uns, über so viele Generationen hinweg, ebenso taten. Pessach ist auch ein Fest des Gottvertrauens, an dem wir dem Schöpfer der Welt für die Errettung unseres Volkes aus der Pharaonenknechtschaft danken.

Und doch verlangt Pessach von uns noch mehr, als nur den dankbaren Blick in die Geschichte zu wenden. Vielmehr sind wir gehalten, zwei weitere Aspekte zu verinnerlichen – und zwar nicht nur während der acht Pessachtage, sondern in unserem alltäglichen Dasein. Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass unseren Vorfahren gleichzeitig mit dem Geschenk der Freiheit auch die Pflicht auferlegt wurde, mit dieser Freiheit richtig umzugehen – etwas, das sie erst im Laufe eines komplexen seelischen Prozesses lernen mussten. Zweitens müssen wir akzeptieren, dass die Pflicht, von der Freiheit richtigen Gebrauch zu machen, auch für uns heute gilt und zur Maxime unseres Handelns werden muss. Wenn die Haggada verlangt, in jeder Generation müsse sich der Mensch so betrachten, als habe er selbst Ägypten verlassen, so bezieht sich das nicht nur auf die Befreiung aus der Sklaverei, sondern auch auf die daraus resultierende Verantwortung, mit der Freiheit angemessen umzugehen. Daher ist Pessach nicht nur ein Fest der Freude, sondern auch eine Zeit, in der wir unseren Umgang mit der Freiheit ehrlich hinterfragen und uns selbst immer wieder neu prüfen müssen.

Als Juden, die heute in Deutschland leben, genießen wir die bürgerlichen und religiösen Freiheiten als Grundrechte, die eine rechtstaatliche Demokratie ihren Bürgern bietet. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass Juden in Deutschland noch niemals so frei leben konnten, wie es uns heute möglich ist. Das sollten wir schätzen. Gerade auch vor dem Hintergrund der Katastrophe, die unser Volk vor siebzig Jahren befiel, wissen wir wie wichtig eine auf festem Fundament fußende Demokratie ist. Darüber hinaus haben die meisten unserer Gemeindemitglieder persönlich erfahren, was Unfreiheit bedeutet, und zwar auch dann, wenn sie die Grauen des Holocausts nicht selbst erleben mussten. Ob in der Sowjetunion oder in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks, oder auch im Iran: Wer die Knechtschaft erlebt hat, weiß mit Sicherheit die Vorzüge der Freiheit zu würdigen.

Umso besser wissen wir – als Einzelne und als Kollektiv –, welche Verpflichtungen uns unser privilegiertes, liberales Leben hier und heute auferlegt. Uns ist bewusst, dass das Fundament der Freiheit ohne gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz zu zerbröckeln droht. Daher müssen wir uns immer selbst gegen Hass und gegen Vorurteile einsetzen – Vorurteile, die sich gegen uns richten, ebenso wie solche, die anderen Bevölkerungsgruppen gelten. Gerade wir als Juden wissen, dass Toleranz und Akzeptanz universell sein müssen. „Den Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht unterdrücken, denn Fremde wart ihr in Ägyptenland“ – das gebietet uns bereits die Tora.

Wir müssen uns auch aktiv, kreativ und innovativ für das Wohl unserer Gemeinschaft einsetzen und ihre Zukunft sichern. Jüdisches Engagement, jüdisches Lernen und jüdische Solidarität gehören zu den Stützpfeilern unserer Lebensauffassung für die Gegenwart und die Zukunft – Stützpfeiler, ohne die unsere Freiheit sich in bedeutungslose Apathie verwandeln würde. Ich freue mich, dass dieses Engagement, die Lernbereitschaft, die Solidarität, der Zusammenhalt und auch die Freude und die Begeisterung am Jüdischen in unseren Gemeinden wieder aufs Neue auf Schritt und Tritt zu finden sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir uns auf unseren Lorbeeren ausruhen dürfen. Dennoch dürfen wir auf das bisher Erreichte gemeinsam auch ein wenig stolz sein.

Die Lehren des Pessach-Festes haben aber nicht nur für uns Juden eine herausragende Bedeutung. In den letzten Monaten sind Millionen von Bürgern im Nahen Osten auf die Straße gegangen – von Tunesien bis Iran, um Diktaturen durch freiheitliche Staatsstrukturen zu ersetzen. Allerdings stehen auch menschenverachtende Kräfte – im Wortsinne – Gewehr bei Fuß, um der Region ihr Modell einer fanatisierten Diktatur aufzudrücken. Wir hoffen und beten, dass die freie Welt die Kraft findet, die Freiheit weltweit zu fördern, nicht zuletzt auch für die Sicherheit des Staates Israel. So gesehen birgt Pessach mit seiner Forderung, die Freiheit zu schätzen und zu schützen, eine wichtige Botschaft für alle Völker – auch und gerade im Jahre 5771. Unsere Feiertage sind, wie stets, aktuell und geben uns wertvolle Hinweise aus der Vergangenheit für unsere eigene Zeit heute.

Ich wünsche allen Juden in Deutschland und allen Juden auf der ganzen Welt von Herzen ein fröhliches, wunderschönes Fest.

Pessach sameach!

Dieter Graumann
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Quelle: Zukunft

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